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Der Träumer und der Tollpatsch

von Sarah Dill

Originalbericht verfasst von: Sven »Der Leichte« Federbeißer Erscheinungsjahr: In einer Bierlache ertrunken Anmerkung vom Bibliotheksaufseher: Leider wurde die Jahrtausende alte, grandios komische Originalfassung von »Der Träumer und der Tollpatsch« beim Betreten der Zentralbibliothek von Brados, eines Morgens in einer großen Pfütze aus schalem Bier liegend vorgefunden. Lediglich der Beginn der Geschichte hat dieses skrupellose Attentat auf ein anspruchsvolles, altes Stück draschimschen Literatur unbeschadet überstanden. Ab einem gewissen Punkt konnte ich den Text leider nur noch sinngemäß entziffern, weshalb auch einige der klassischen, federbeißischen Satire- und Wortwitz-Passagen verloren gingen. Schlussendlich noch eine öffentliche Bekanntgabe: Wenn ich denjenigen erwischen sollte, der für diesen idiotischen Frevel verantwortlich ist, werde ich Höchstselbst dafür sorgen, dass er nie mehr in seinem jämmerlichen Leben auch nur einen einzigen Tropfen Draschimbier in die Hand bekommen, geschweige denn trinken wird!!! Die Geschichte der Sternenkristalle reicht zurück bis in die Anfänge des Landes Imeas. Sie beginnt, lange bevor die Untoten-Seuche das Gebiet heimsuchte und die heute prächtigen Hauptstädte noch kleine Dörfer waren. Dort, vor all den Jahrtausenden, lebte ein Draschim namens Gomrund Zwieselbart. Mit gerade einmal 45 Jahren war er der Jüngste in der Blutlinie der Zwieselbarts, einer hochangesehenen Familie im Gewerbe des Bergbaus und der Steinmetze. Ob es nun die prächtigsten Statuen vor den Toren des Zwergenkönigs waren oder schlichte, einfache Tafeln in der beliebtesten Taverne der Stadt – die Arbeiten der Zwieselbarts waren bergauf und bergab weithin bekannt. So war es nicht überraschend, dass nun jeder mit wachsender Neugier auf den jüngsten Sprössling der Familie schaute. Doch während Gomrunds Bruder Domrund bereits seit einigen Jahren sein Talent in der Bildhauerei entfaltete, beschäftigte sich Gomrund lieber auf dem aussterbenden Gebiet der Gemmologie, der Edelsteinkunde. Vereinzelte Leser werden sich fragen, weshalb ich von einem aussterbenden Gebiet spreche. Tatsächlich war es damals eine Zeit, in der das Edelsteinaufkommen in Imeas vergleichsweise gering und auch die Nachfrage eher dürftig war. Nicht zuletzt, weil König Fadrim Goldhand, der Vierte seines Namens, seinerzeit das Volk der Draschim mit einer abnormen Vorliebe für Mahagonimöbel beinahe in den Ruin getrieben hätte. Doch Gomrund war ein Träumer. Er glaubte fest daran, dass seine Vorfahren die Gebirge von Imeas nicht völlig ausgeschöpft hatten, ein Glaube, der als Hirngespinst abgetan wurde. Der junge Draschim studierte Tag und Nacht alte Schriften und Landkarten. Gomrunds Vater, Borim Zwieselbart, sah dies natürlich ganz und gar nicht gern. Stets war er darum bemüht, dass seine Söhne ein gescheites Handwerk lernten und der Familie in allen Punkten Ehre brach- ten. Doch Gomrunds unbeirrbares Festhalten an der Gemmologie brachte ihnen eher Spott und Gelächter ein. Besonders schlimm war es an dem Abend der Sommersonnenwende, den die Zwieselbarts wie alle anderen Draschim in der Taverne verbrachten. Gomrund war kurz zuvor auf einen Hinweis in einem alten Buch gestoßen, der von einem strahlenden Edelsteinaufkommen unter dem Berg Dranath berichtete. Dies hatte er mit Begeisterung seinem Vater kundgetan, welcher allerdings gerade mit einigen Handelspartnern in gemütlicher Runde Karten spielte. So kam es, dass an diesem Abend ein Großteil der Scherze auf den Schultern der Zwieselbarts abgeladen wurde. Erzürnt über die Schmach, bestrafte Borim seinen Sohn damit, dass er sieben Tage und sieben Nächte in Folge im Bergwerk arbeiten solle, um sich daran zu erinnern, zu was er geboren worden war. Doch selbst dies konnte Gomrund von seinem Traum nicht abbringen und so schritt er am Tage nach Beendigung seiner Strafe vor König Halbarox I. Respektvoll bat er ihn um die Finanzierung einer Expedition zum Dranath, um den Wahrheitsgehalt seiner Informationen herauszufinden. König Halbarox jedoch verwehrte ihm diese und er riet Gomrund, von seinem Traum abzulassen und sein Glück im Handwerk seiner Familie zu suchen. Als der junge Zwerg jedoch nicht locker ließ und auch am zweiten und dritten Tag mit demselben Wunsch wiederkehrte, machte Halbarox ihm einen Vorschlag: »Reise zum Berg Dranath. Finde einen Beweis für deine Behauptungen und ich werde über deinen Wunsch nochmals nachdenken.«, verkündete er im Beisein seiner Berater und stellte Gomrund sogar einen Minenarbeiter zur Seite, der ihm helfen sollte. Grung war sein Name und was Gomrund zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass eben dieser Zwerg Tags zuvor wegen seiner Tollpatschigkeit einen ganzen Minenschacht hatte einstürzen lassen. Eigenen Aussagen zufolge, hatte ihm eine Wühlmaus zuvor sein Pausenbrot weggeschnappt. Im darauffolgenden Versuch, ihr ins Mauseloch zu folgen, hatte er einen Stützbalken umgerissen und beinahe sich selbst und drei weitere Zwerge verschüttet. Dennoch waren sich die Draschim auf Anhieb sympathisch. Während Gomrund froh war, endlich einen Gefährten auf seiner Suche gefunden zu haben, weckte die Aussicht auf Abenteuer und eventuell verlorene Schätze Grungs unbändige Neugier. Gemeinsam reisten die Zwerge zu dem hohen Berg Dranath, um den sich zu dieser Zeit allerlei Mythen und Legenden ragten. Als einer der höchsten Gipfel in Imeas, erzählt man sich unter anderem, dass man von seiner Spitze aus die Sterne berühren könnte. Als Gomrund anhand von Karten und Aufzeichnungen die Stelle gefunden hatte, von der es am günstigsten war, zu graben, begannen sie. Ich denke, jedem wird bewusst sein, dass es die Zwerge einiges an Zeit gekostet hat, überhaupt wenige Meter in den Fels vorzudringen. Um schneller voranzukommen, teilten sich die Draschim die Arbeitszeit in Schichten ein und ackerten Tag und Nacht, bei brütender Hitze, wie auch bei strömenden Regen. Letzteres jedoch stellten Gomrund und Grung sehr bald wieder ein – es war einfach unmöglich, vernünftig zu buddeln, wenn von den oberen Felsbrocken her ganze Sturzbäche auf den Kopf niedergingen. Davon ab konnte Gomrund Grungs Gezeter über seine unpassenden Kleider schon bald nicht mehr hören. Acht Tage und Nächte gruben die Draschim bei Wind und Wetter an dem Tunnel weiter. Gomrund hatte aufgrund der vorhandenen Aufzeichnungen berechnen können, dass der Bestand an Edelsteinen unter dem Berg liegen müsse, in einer Tropfsteinhöhle, welche vor Jahrhunderten verschlossen wurde. Von wem, das konnte Gomrund nicht herausfinden und so hielt er Grung mindestens drei Mal am Tag an, vorsichtig zu graben – einmal zu jeder Mahlzeit, da der Tollpatsch nach dem Essen wohl am aufnahmefähigsten war. Die Tage und bald darauf Wochen zogen ins Land. Wer gerade nicht am graben oder Steine abklopfen war, konnte zusehen, wie Sonne und Mond aufgingen, über den Gipfel des Berges hinwegliefen und schließlich wieder am Horizont verschwanden. Je tiefer sie in den Berg vordrangen, desto weiter verlegten sie ihre Schlafplätze ins Innere. Nach anderthalb Monden des Grabens waren sie so weit in die Dunkelheit vorgedrungen, dass ihnen nur noch das Feuer der Laternen ein orange-rotes, flackerndes Licht spendete. Ungefähr um diese Zeit herum beschloss Grung, dass diese Expedition wohl seine Strafe für all die Unfälle sein musste, für die er in den Bergstollen verantwortlich gewesen war. Wenige Tage bevor der zweite Mond ihres Aufenthalts ablief, wurde auch allmählich ihr Proviant knapp. Und so überlegte Gomrund, ein altes und hartnäckiges Gerücht über die Draschim auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Er suchte einen Stein, der seiner Meinung nach eventuell appetitlich schmecken könnte und nahm ihn, mit lediglich einem Hauch von Verzweiflung in der Tat, wie er sich selbst einredete, in die Hand. (Moment… er hat tatsächlich versucht einen Stein zu essen???) Die nächsten Tage (oder waren es Wochen?) verbrachten die Gefährten in völliger Zeitlosigkeit, da ihnen jeglicher Anhaltspunkt fehlte den Stand der Sonne auszumachen. Eine wirklich erschütternde Wahrheit, die nicht süßer wird, je öfter man sie schlucken muss. Eines Tages – oder Nachts – ließ Grung seine Spitzhacke klirrend zu Boden fallen und sackte mit dem Rücken an der Felswand in sich zusammen. Gomrund sah erschrocken auf, schnappte sich den Wasserschlauch und ging eiligen Schrittes zu ihm herüber. Grung atmete schwer und keuchend, den Kopf in den Nacken gelegt und mit halb geschlossenen Augen. Er schüttelte sich leicht, bevor er Luft schnappend sagte: »Gomrund… wir… ich bin am Ende. Wir sind noch jung, zu jung für einen so langen Aufenthalt unter Tage, ohne Anleitung.« Er hob schwerfällig einen Arm und wischte sich den glänzenden Schweiß von der Stirn, bevor er dann doch zum Wasserschlauch griff. »Grung, mein Freund«, sagte Gomrund eindringlich und legte ihm eine mit blutigen Schwielen überzogene Hand auf die Schulter. »Sag so etwas nicht! Nicht so kurz vor dem Ziel! Es dauert nicht mehr lange, dann müssen wir auf diese Höhle und ihre Schätze stoßen. Oder zumindest einen Hinweis.« Grung schnaubte genervt. Die Barthaare, die sich über seine Oberlippe zogen, zitterten bei jedem Atemzug leicht. »Das hast du letzte Woche auch schon gesagt. Und davor die Woche. Ich kann nicht mehr, Gomrund. Meine Füße brennen wie Feuer, meine Beine durchzuckt ein Krampf nach dem anderen… meine Hände vermögen keine Schaufel mehr zu halten. Siehst du das? Meine Handflächen…« Er hob die kräftigen, mit Staub und Dreck bedeckten Hände ins Licht der Laterne. Die Handinnenflächen waren völlig aufgeschürft, überall nur rohes Fleisch, Blut und Dreck. Gomrund seufzte und ließ sich neben seinem Mitstreiter nieder. Einige Minuten saßen sie still und verzweifelt da, das Feuer warf tanzende Schatten auf ihre zerschundenen Gesichter. Irgendwo hörte Gomrund Geröll, das herunterrollte, ignorierte es aber und sprach stattdessen aus, was beide dachten: »Meinst du, sie wussten es? Ich meine, dass hier nichts ist?« Es war eine sachlich gestellte Frage. Er sank wie ein nasser Sack in sich zusammen, vor Verzweiflung zitternd. »Vielleicht. Vielleicht wollten sie uns auch ganz loswerden… die Schande aller Draschim, der Tollpatsch und der Träumer…«, murmelte Grung mit einem Grollen in der Stimme. Sein Blick war bitter auf die Decke des Tunnels gerichtet. »Haben sich still und leise unter dem Dranath zu Tode gearbeitet, bei dem Versuch, sich und ihre Fähigkeiten vor dem Volk zu beweisen.« Gomrund stieß ein brummelndes, leises Lachen aus seinem Bart hervor. »So, wie du es sagst, klingt es beinahe heroisch«, sagte er und schaute zu Grung, der allerdings den Blick weiterhin auf das Gestein über ihnen gerichtet hatte. »Wir haben es versucht, oder? Wir haben an das geglaubt, woran keiner sonst glaubte. An einen Schatz unter dem Dranath. Und ich glaube da immer noch dran…« Der Träumer nahm einen Schluck aus dem Schlauch, den Grung ihm gereicht hatte. »Irgendwo hier ist eine wahre Edelsteinquelle, das spüre ich in meinen lahmen Beinen, meinem müde klopfenden Herzen und in meiner verdreckten Nasenspitze. Wir machen nur irgendetwas falsch, etwas fehlt oder…« Er machte eine kurze Pause und gestikulierte halbherzig mit der rechten Hand. »Vielleicht haben wir auch den Tunnel falsch angesetzt…« Grung seufzte. Dann schwiegen sie. Stumm saßen die Draschim im dunkler werdenden Laternenschein nebeneinander. Beide starrten auf die Felswand, in Gedanken versunken und sich die Frage stellend, ob sie es zurück in die Stadt schaffen würden oder aber keiner von ihnen würde sich genug erholen, um überhaupt die Höhle verlassen zu können. Dann würde der Dranath ihr Grab werden. »Nun«, sagte Gomrund, als er zu dem Schluss kam, »Man kann sich immerhin demütigendere Grabstätten vorstellen, als einen der höchsten und majestätischsten Berge von Imeas.« Grung stimmte in einem Anflug von Galgenhumor amüsiert mit ein und antwortete: »In Gedenken an Gomrund und Grung. Der Träumer und der Tollpatsch, getrieben von Hoffnung, gescheitert trotz Hoffnung und gestorben mit Hoffnung.« Er wandte seinen Kopf und grinste Gomrund schwach an. Der Draschim erwiderte das Grinsen und nickte ihm respektvoll zu. »Es war mir eine Ehre, mit ihnen zu graben, Grung Feuersänger.« »Dasselbe gilt für mich, Gomrund Zwieselbart«, gab Grung mit einem leichten Senken seines Kopfes zurück. Dann umfing sie wieder die Stille. Die Stille, die ihnen sagte, dass es bald vorbei sein würde. Dann würden sie keine Qualen mehr haben, nie wieder Hunger oder Durst leiden und auch die Müdigkeit würde für immer von ihnen weichen… Er hatte den Gedanken gerade zu Ende geführt, als die Flamme der letzten Laterne mit einem Zischen verlosch und sie beide in absolute Finsternis tauchte. Gomrund schloss die Augen und wollte versuchen, einzuschlafen, als ihm durch die Augenlider ein diffuses Licht verwirrte. Müde schaute er auf, zwang sich, die Augen bei dieser Dunkelheit offen zu halten. Da fiel ihm am Boden vor der Felswand, an der sie zuvor gearbeitet hatten, ein schwacher Lichtschein auf. Der Draschim schüttelte den Kopf, der festen Überzeugung, sein Kopf wolle ihm nun einen Streich spielen. Doch als er wieder hinsah, war der Lichtstrahl noch immer da, der durch den Boden drang. Seine linke Hand fuhr zu seinem Gefährten hinüber und schüttelte ihn unsanft aus seiner Lethargie. Er grummelte und murrte, bis er wieder einigermaßen wach war. »Was ist denn noch, Gomrund? Lass es d-«. Dann verstummte der gerade noch missgelaunte Zwerg, als auch ihm das Licht auffiel, dass schimmernd aus dem Boden aufstieg. »Ist das etwa…?«, fragte er mit gekrächzter Stimme und stemmte sich umständlich auf die Knie. Gomrund war schon dabei, sich abgekämpft zu der Stelle hinüberzuschleppen, als er sagte: »Da muss deine Spitzhacke vorhin aufgeschlagen sein…«. Neben dem Riss im Boden ließ sich der junge Zwieselbart auf die Knie fallen und tastete in der Dunkelheit nach dem Werkzeug von Grung. Jede Faser seines Körpers sträubte sich dagegen, auch nur eine Bewegung noch auszuführen. Doch der Lichtstrahl war wie ein letzter, übrig gebliebener Funke seiner Hoffnung, der einen Riss durch die Schwärze seiner Gedanken zog. Also zwang Gomrund sich mit zusammengebissenen Zähnen dazu, die Spitzhacke fest mit beiden Händen zu umfassen und sie über den Kopf zu heben. Das Geräusch des Metalls, das klackend auf dem bröckelnden Stein aufkam, hallte durch den düsteren, einsamen Tunnelgang wider. Schmerz zog sich durch die Gliedmaßen des Zwerges, als er die Hacke erneut über den Kopf hob und wieder zuschlug. Das Gestein bröckelte weiter und ließ nach und nach mehr Licht in den Gang hineinfluten. Nach dem vierten Hieb auf den Boden, erzitterte dieser und mit einem zuerst leisen, dann lauter werdenden Klappern des Felsens öffneten sich spinnennetzartig weitere kleine Risse zu allen Seiten. Überall drangen dünne Lichtstrahlen nach oben und erhellte die Zwerge für einen Moment, bevor sie beide den Boden unter den Füßen verloren. Sie fielen ein Stück frei in die Tiefe, bevor sie gegen eine Wand klatschten und dann bis zum Boden hinunterrutschten. Gomrund blinzelte und hielt eine Hand schützend vor seine Augen, die mit so viel Licht nach völliger Finsternis nicht so gut umgehen konnten. Der Träumer vernahm Grungs lautes Fluchen, als er sich aufrichtete und dabei einen zwei-Fäuste-großen Stein, der auf ihm gelandet war, zur Seite warf. Als sich seine Augen endlich an die Helligkeit gewöhnt hatten, die in dieser Höhle vorherrschte, konnte Gomrund seine Hand wieder senken. Grung brauchte etwas länger als er und so war es dem Zwieselbart vergönnt, den ersten Blick auf das sich ihm bietende Bild zu werfen. Eine hell erleuchtete Tropfsteinhöhle, uneinschätzbar in ihrer Größe, breitete sich vor ihnen aus. Gomrund merkte, wie seine Kinnlade hinunter klappte, als er den Kopf hob und einen Blick auf die durch Jahrtausende andauernden Wasserfluss entstandenen Steingebilde riskierte. Es war ein atemberaubendes Bild, welches sich vor den beiden Draschim auftat. Das größte Wunder dieser unterirdischen Schatzkammer, waren nämlich weder Edelsteine, wie Zwieselbart sie kannte, noch teures Nutzgestein, wie der Tollpatsch es hätte identifizieren können. Überall in der Grotte verteilt gab es Vorkommen von Gesteinsformationen und -arten, die beide noch nie zuvor gesehen oder auch nur von gehört hatten. Es waren Berge in verschiedenster Größe und Masse von kristallenen Gesteinsbrocken, überzogen mit linienartigen Schattierungen. Sie leuchteten von Innen heraus – und das in den unterschiedlichsten Farben und deren Tönen. Von Blau und Grün, über Violett, Gold, Orange und Silber, bis Gelb, Rot und all ihren Abstufungen. Der an die Felswände und -decken, in den vielfältigsten Farben geworfene Lichtschein, ließ die jungen Draschim, atemlos und gebannt von der Schönheit dieser Höhle, für einige Minuten innehalten. Dann war Grung der Erste, der sich wieder regte und zusammenzuckte, als er aus seiner Schockstarre aufwachte. »Das ist der unglaublichste und wunderschönste Ort, den ich je besucht habe. Den ich je besuchen werde«, sagte er und sah zu Gomrund, der die funkelnden, schwarzen Augen nicht von der Pracht der leuchtenden Kristalle abwenden konnte. Schließlich, als der Träumer noch zwei Augenblicke lang die Aussicht genossen und einen gedanklichen, in seinen Augen passenden, Vergleich gezogen hatte, sagte er zu Grung: “»Dieser Ort ist von einzigartiger Schönheit… und genau das, was wir gesucht haben, mein Freund.« Er trat zwei Schritte zu dem Gefährten und legte ihm eine Hand auf den Rücken, mit der anderen umfasste er die leuchtende Grotte in einer fließenden Bewegung. »Es ist nicht das, was ich erwartet hatte – es ist um Gebirgsketten besser! Diese leuchtenden Steine sind nicht nur wunderschön, einzigartig und praktisch, sondern auch in unüberschaubaren Massen vorhanden!« Jegliche Erschöpfung, Müdigkeit, sämtliche Schmerzen und jeder Hunger, den sie vorher noch verspürt hat- ten, wurde verscheucht durch die Aufregung und dem Gedanke daran, erfolgreich in die Stadt, zum König und seinem Gefolge zurückkehren zu können. Bevor jedoch ihre Erschöpfung wiederkehren konnte, machten sie sich an die Arbeit und hoben einzelne, lose auf dem Boden liegende, Kristalle auf, um sie in einem Lederbeutel sicher zu verstauen. Als sie genug Beweismittel für den König gesammelt und sicher verpackt hatten, kletterten sie wieder in den Tunnel zurück. Die Dunkelheit vertrieben sie mithilfe eines goldleuchtenden Edelsteins, bis sie am Ende des Ganges die ersten, schwachen Sonnenstrahlen sahen. Ein kühler Wind strich über das Plateau vor dem Berg. Siegessicher kehrten sie nach Brados zurück. Als sie gerade die Hauptstraße in Richtung Stadt erreichten, kreuzten sie den Weg mit einer Wachpatrouille, die sie zunächst argwöhnisch beäugten. Als sie jedoch ihre Namen nannten und erklärten, mit welchem Auftrag sie vom König zum Dranath entsandt worden waren, entspannten sich die Wachen sichtlich. »Nun, Meister Zwieselbart, Meister Feuersänger«, sagte der Hauptmann mit dröhnender, amüsiert klingender Stimme. »Sehr erfolgreich könnt Ihr ja nicht gewesen sein. Selbst eure Ausrüstung habt ihr scheinbar zurückgelassen. Wurdet ihr angegriffen?« »Wir waren erfolgreich«, gab Gomrund gelassen zurück, holte einen der Lederbeutel hervor und hielt ihn dem Hauptmann, der sich zuvor mit Mendri Glanzblatt vorgestellt hatte, unter die Nase. »Und es wäre eine gute Tat von Euch, wenn Ihr uns in die Stadt zurück geleiten würdet, um dem König von unserem Fund zu berichten.« Der blond bärtige Hauptmann öffnete mit einem skeptischen Blick den Sack und steckte übereifrig seine lange Nase hinein. Erschrocken fuhr er auf, als ihm das helle Licht der Kristalle entgegen schien. Er blinzelte zweimal perplex in die Richtung der beiden Entdecker, bevor er den Beutel wortlos an Gomrund zurückgab und sie bat, zu zwei weiteren Soldaten auf das Pony zu steigen. Im höchsten Eiltempo ritten sie bis hoch zum Palasteingang. Gomrund musste noch drei- oder viermal die Kristalle herausholen und den Wachen zeigen, um zu beweisen, dass sie tatsächlich etwas gefunden hatten. Sobald König Halbarox I. von ihrer Rückkehr erfuhr und vor allem, dass sie scheinbar nicht mit leeren Händen erfolgte, rief er die Gefährten so zeitnah wie möglich in den Thronsaal. Seite an Seite betraten sie die Halle durch die Flügeltür und an den langen Reihen der unterschiedlichsten, großen Häuser vorbei, die sich umgehend versammelt hatten. Gomrund erblickte auch seinen Vater und seinen Bruder unter den Zuschauern, die ihn im ersten Moment verdrossen und dann sehr entgeistert beobachteten. Ehrerbietig gingen die Zwerge vor dem Thron auf die Knie und grüßten so ihren Monarchen. Als Halbarox Gomrund dazu aufforderte, vorzuzeigen, welchen bedeutenden Fund sie unter dem Dranath aufgespürt und ausgehoben hatten, hielt er es für unnötig, den Kristall noch länger verpackt zu lassen. Er griff in den halb geöffneten Lederbeutel und beförderte jenen goldenen Kristall, der sie schon aus dem Berg geführt hatte, vor allen Anwesenden zu Tage. Diejenigen, die in der ersten Reihe standen und ungehinderte Sicht auf das Licht des Edelsteins hatten, kniffen ehrfurchtsvoll die Augen zusammen oder schützten sich ebenfalls durch hochgehobene Hände. Zunächst durchlief ein Raunen die Draschim in der Halle, dann ertönte hier und da ein vereinzeltes Jauchzen von Frauen oder Kindern. Einige Männer gaben einen überraschten Ausruf von sich. Gomrund konnte in der Zuschauermenge streckenweise Gemurmel darüber hören, was es sein soll. »Gomrund Zwieselbart, Grung Feuersänger«, erhob der König seine Stimme, als er den Kristall eine Minute lang begutachtet hatte. »Berichtet. Was habt ihr gefunden?« Gomrund sah zu Grung. Dieser nickte, ohne ihn anzusehen. Der Träumer trat zwei Schritte vor und hob den Leuchtkristall auf eine Höhe, mit der ihn jeder soweit sehen konnte. Dann begann er, die Geschehnisse ihrer Suche zu erläutern und ließ dabei keine Einzelheit aus. »Ich benenne es deshalb als ›Wunder‹,« endete er stolz. »Weil sie so hell leuchten wie die Sterne.« Der Draschimkönig trat näher und zögerte kurz, bevor er Gomrund den goldenen Kristall aus der Hand nahm und ihn ansah. Schließlich sagte er: »Ich, und auch mein ganzer, restlicher Hofstaat, müssen uns bei Euch, Gomrund Zwieselbart, aufrichtig entschuldigen.« Er hob seinen Blick und sah dem jungen Träumer in die Augen. »Ihr lagt die ganze Zeit über richtig und man hat euch nicht geglaubt. Ganz im Gegenteil – habe ich Euch, jung wie ihr seid, zu zweit auf eine solche gefährliche Expedition geschickt.« Seine Stimme hallte bei diesen Worten von den Wänden der Halle wieder und rief eine leichte Gänsehaut bei beiden Zwergen hervor. Halbarox I. gab Gomrund den Kristall zurück, welcher ihn im Lederbeutel verschwinden ließ. Die letzten sechs Zeilen waren ab diesem Punkt nur noch ein verschwommener, tintenfarbiger Nebel und somit völlig unlesbar. Da die Sternenkristalle auch heute noch zu den gefragtesten Waren unseres Volkes gehören, hat man die Grotte vermutlich zu einem Werk ausgebaut. Bevor ich mir aber nur halbe Wahrheiten oder Eventualitäten ausdenke… hier ein unlustiger, überflüssiger Kommentar von mir: Alriks Füße stinken wie Tiefländer Bleichkäse! Nachwort (hinzugefügt von dem armen Schreiberling, der die Geschichte wegen eines trotteligen Volksgenossen rekapitulieren musste) Unsere Gefährten hatten tatsächlich nicht untertrieben: Die Quelle der (1) Sternenkristalle ist dermaßen gigantisch, dass selbst heute, mehrere Jahrtausende nach der Entdeckung durch den Träumer Gomrund Zwieselbart und dem Tollpatsch Grung Feuersänger (2) noch immer diese leuchtenden Kristalle abgebaut und verkauft werden. Inzwischen hat man verschiedenste Art und Weisen gefunden, die Kristalle mehr oder weniger sinnvoll zu verarbeiten. Einige Elfen, so heißt es, gaben einst (noch vor Einführung des An- und Ausstellsockels) bei Zwiesel & Sänger: Edelsteine & Mehr (3) eine Bestellung zur Konstruktion und Erbauung eines Bettes aus Sternenkristallen auf. Ich denke, uns dürfte allen klar sein, dass diese Idee nicht sonderlich gut ankam. Darüber hinaus ist jedoch der Einsatz der Sternenkristalle heutzutage, besonders nach Einführung des An- und Ausstell- sockels durch Krimst Feuersänger vor einigen Jahrhunderten, vor allem als Straßen- oder Gartenlaternen sehr beliebt, sowie die Verwendung als relativ praktische Taschenleuchte. (*1) Eigentlich hat Gomrund den Kristallen den Namen „Pali Sorkavis“ gegeben, was soviel wie „Gefallene Sternschnuppe“ bedeutet, doch die anderen Völker, und sogar einige der Draschim selbst, konnten ihn sich nicht merken. Deshalb nannte man die Edelsteine irgendwann nur noch „Sternenkristalle“. (*2) Beide Draschim wurden später von Gomrunds Bruder Domrund zu Steinstatuen gehauen. Beide Skulpturen stehen in der Halle der Großen und sind besuchbar. (*3) Seit der Gründung der Firma zu Gomrund und Grungs' Zeit behaupten alle Geschäftsführer durch die Bank hinweg, sie seien noch immer blutsverwandt mit den beiden Gründern, obwohl es nachgewiesen ist, dass es heute keine direkten, lebenden Nachfahren mehr von Feuersänger gibt