Der Totenhügel
von Oda Plein
Ein trockenes Husten erschütterte Jeannas Körper. Mit blutunterlaufenen Augen blickte sie zu dem kleinen Hügel, der ihr die Sicht auf ihre Kinder versperrte. Lachen tönte herüber und sie erkannte die Stimme ihrer Tochter Iri. Eine einzelne Träne lief über Jeannas Gesicht. Sie wusste, dass sie nicht länger warten konnte. Die Totenseuche hatte sie erfasst. Schon morgen würde der große Schatten sie übermannen und nie mehr loslassen. Angefangen hatte es mit einem einzigen Mann. Er wollte Macht, doch die gängige Magie reichte ihm nicht. Und so begann er dunkle Zauber zu wirken. Er ließ die Toten auferstehen, sprach finstere Beschwörungen und Zauber. Doch seine Gegner waren auf der Hut und taten es ihm gleich. Imeas wandelte sich mit der Zeit zu einem Land voller Nekromanten, die sich gegenseitig bekriegten. Seuchen peinigten die Bevölkerung und mit ihnen verloren sich Mitleid, Hoffnung und Freude. Was mit Magie begonnen hatte, setzte sich als Krankheit fort und nur wenige wurden verschont. Als ihre Söhne Jular und Kilan mit ausgelassenem Lachen über den Hügel tobten und dabei im wilden Spiel ihre kleine Schwester jagten, erschien ein sanftes Lächeln auf ihrem Gesicht. Liebevoll öffnete sie die Arme und die drei Kinder stürmten ausgelassen zu ihr. Sie schloss die Augen und genoss diesen letzten Moment tiefer Liebe. Doch sie spürte auch den verzweifelten Blick ihres Mannes, der ihre Entscheidung nicht verstand. »Mama? Wann gehst du wieder mit uns in den Wald?«, fragte Iri, immer noch mit einem fröhlichen Lachen im Gesicht. »Gar nicht mehr Iri«, entgegnete Jeanna sanft. »Ich bin zu krank mein kleiner Liebling.« »Aber«, sie hob leicht eine Hand, als ihre Tochter beginnen wollte zu weinen, » heute Nacht gehe ich an einen besonderen Ort und dort werde ich etwas finden, was noch viel schöner ist als der Wald.« Iris Augen wurden groß. »Was denn Mama?« »Einen Weg, mein Schatz.« »Aber es gibt doch schon ganz viele Wege.« »Diesen einen können aber nur wenige gehen Iri und darum bin ich sehr glücklich.« »Darf ich diesen Weg auch gehen?« »Nein Iri, du nicht, aber du kannst deinen Eigenen finden. Das Mädchen hüpfte auf einem Bein herum und lachte laut. »Dann gehe ich den Weg jetzt suchen.« In der folgenden Nacht wachten die Kinder auf, denn beißender Rauch zog in die kleine Hütte. Gleich hinter dem Hügel brannte der alte, kleine Schäferschuppen. Ihr Vater ließ sie nicht nach draußen und er tat nichts, um den Brand zu löschen. Jeanna kam nie wieder zurück. Sieben Monate lang schlief Iri nur noch am Tag und nicht mehr in der Nacht. Sieben Monate lang weinte sie, wenn der Mond aufging und nur Jular schaffte es, sie zu trösten. - 3 - - 4 - Dann wurde auch er krank. Ihr großer Bruder, der sie immer mitgenommen hatte zum Fluss, um zu angeln. Der sie getröstet hatte, wenn sie traurig war. Der sie im Arm gehalten hatte, wenn sie ihre Mutter vermisste. Sie war ihm überall hin gefolgt. Wie ein Fieber hatte es begonnen, doch schnell wurde sein Blick immer leerer. Er hustete trocken und dunkel und bekam dunkle Flecken am Körper. Seine Zähne wurden schwarz und fielen aus. Als ihr Vater ihn dabei entdeckte, wie er die Fische roh verschlang, sperrte er Jular in den Keller. Nun konnte Iri nicht mehr mit ihm angeln gehen, mit ihm verstecken spielen oder in seinen Armen einschlafen. Obwohl der Vater immer wieder Kräuter holte und alles tat, um Jular zu helfen, starb der Junge langsam und qualvoll. Es dauerte nur ein paar Wochen und auch Kilan wurde krank. Als er mit wildem Blick auf Iri losging, um sie zu beißen, warf der Vater sich dazwischen und befahl Iri nach draußen zu laufen. Als er sie am Abend zurück ins Haus holte, war Kilan fort. Iri weinte und wollte wissen, wo ihr Bruder denn geblieben war, doch der Vater schwieg und säuberte mit hartem Blick die blutige Axt. Drei Tage später schickte der Vater sie an den Fluss, um etwas Wasser zu holen. Als Iri zurückkam, war das Haus leer. Ihr Vater war fort. »Was ist mit diesem Land, dass du ihm so viel Aufmerksamkeit schenkst?« Die körperlose Stimme fühlte sich an wie strahlendes, helles Sonnenlicht, obwohl ein kleiner Vorwurf darin mitschwang. »Es ist tot«, kam ihre Antwort, leise und langsam, wie ein verlöschender Stern. Iri kauerte sich auf dem kleinen Hügel zusammen und starrte den schwankenden Schatten entgegen. Es gab keinen Ausweg mehr. Das, was ihrem Vater und ihren Brüdern geschehen war, wartete nun auch auf sie. Das Mädchen strich sich eine dreckige Strähne aus dem Gesicht und lauschte dem Stöhnen und Jammern in der Dunkelheit. Sie waren überall. Ein Windhauch trieb ihr den Rauch des kleinen Feuers ins Gesicht. Wie ein Wald, der eine winzige Lichtung umgab, umschlossen die lebenden Toten das Mädchen. Als der Mond sich zwischen einigen Wolken hervor kämpfte, konnte sie die Gestalten erkennen. Geifernd, faulend, manche kriechend, andere stolpernd. All diese Wesen gierten nach dem Leben in ihr. Doch Iri hatte keine Angst. Diese Fähigkeit hatte sie vor langer Zeit verloren. Sie zog die dreckigen nackten Füße unter sich und ihre hellblauen Augen blitzten im Mondlicht auf, als sie zum Himmel blickte. »Was willst du mit diesem Land, hier gibt es nichts, was dir entspricht.« Tairis hatte sich abgewandt und wollte Imeas den Rücken kehren, so wie andere Götter vor ihm, doch ihre sanfte Stimme hielt ihn auf. »Das stimmt nicht, es gibt jemanden, der alles noch verändern könnte.« Siriat lächelte und ließ die Mondsichel am schwarzen Himmel ein wenig heller leuchten. »Du denkst, ein kleines Menschenkind kann diese Aufgabe erfüllen?« Der Gott des Lichtes und des Lebens blickte zurück auf den kleinen Hügel und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, das kann sie nicht schaffen.« »Sie sehnt sich nach allem, was ich bin«, erwiderte die Göttin der Nacht mit ruhiger Stimme . - 4 - - 5 - »Ihr fehlt nur noch ein klein wenig Mut, um ihren Weg zu gehen.« Iri blickte zum Mond, der mit einem Mal heller zu werden schien und eine einzelne Träne lief über ihr Gesicht. Sie kamen immer näher, umringen den Hügel schon und die ersten fingen an, ihn zu erklimmen. Sie erkannte eine der Gestalten, die sie in das Reich der Untoten ziehen wollten. Ihr Bruder Jular breitete seine Arme aus, als wollte er sie umfangen und trösten. Doch sein Blick war so leer, wie ein ausgetrockneter Brunnen. Tairis regte sich unruhig. »Schenk ihr doch ein Zeichen, irgendetwas, das ihr hilft.« »Das brauche ich nicht. Sie ist sich sicher, sie darf nur die richtige Zeit nicht verpassen«, entgegnete Siriat gelassen und winkte einer Wolke, die sich vor den Mond schob. Als das Licht verging und nur noch ab und an ein Stern am Himmel leuchtete, war die Zeit gekommen und Iri stand langsam auf. Sie sah Jular an und schüttelte den Kopf. Unter Tränen rief sie über das um sie herum wimmelnde Heer: »Ich werde nicht mit euch gehen!« Sie zog einen brennenden Ast aus dem Feuer. »Meine Mama hat es verboten.« Die stöhnenden Leichen fingen an zu jammern und zu kreischen und Iris Hand zitterte wie ein Blatt in einem wilden Sturm. Doch sie schüttelte erneut den Kopf. »Ich muss auf meine Mama hören, das hat sie immer gesagt«, rief sie trotzig in die Dunkelheit. Tairis lauschte dieser Kinderstimme und verwundert spürte er eine Kraft darin, die ihm bisher entgangen war. »Sie ist erst 10 Jahre alt, woher nimmt sie diese Kraft?« »Aus der Liebe«, antwortete Siriat und Stolz erfüllte sie. Iri weinte nun laut, doch ihre Hand fasste den Ast fester. Immer näher kamen die Untoten. Sie schloss die Augen, als ihr der Geruch von faulendem Fleisch ins Gesicht schlug. Fest drückte sie die Hand vor ihre magere Brust und ließ zu, dass ihr Bruder sie umklammerte. »Mama hatte recht Jular«, flüsterte sie leise, »ich habe den Weg gefunden.« In diesem Moment riss der Himmel auf und der Mond schien hell auf das Mädchen, dass gemeinsam mit ihrem toten Bruder in Flammen aufging. Nur eine ihrer Tränen entkam dem Feuer und traf auf die karge, tote Erde. Tairis dreht sich zu Siriat um. »Was hat sie falsch gemacht«, fragte er unruhig, doch dann sah er das glückliche Lächeln auf Siriats Lippen und ein wissender Blick trat in sein Gesicht. »Nichts«, sagte sie und breitete die Arme aus. - 5 - - 6 - Nebel stieg von der Stelle auf, an der Iri zu Boden gegangen war. Ein kleiner Hauch nur, der sich sacht erhob. Doch dann wuchs er an und trieb über die Massen der lebenden Toten. Er wirbelte und waberte und in ihm schienen Millionen von winzigen Sternen zu funkeln. Sieben Tage dauerte es, bis das ganze Land von Nebel überzogen war und sieben Tage brauchte es, bis er sich zurückgezogen und in einem äußeren Ring um das Land gelegt hatte. Viele Teile von Imeas waren nun in den grauen Schwaden verborgen. Orte, an denen die finsteren Mächte besonders schlimm gewirkt hatten, Plätze an denen sich viele der Untoten gesammelt hatten und Häuser, die Heimstätte der Nekromanten waren. Das alles würde der Nebel nie wieder frei geben. In dieser Nacht wurden sieben Mädchen geboren, die alle ein halbmondförmiges Mal auf der Stirn trugen. Ihre Mütter und Väter wurden die ersten Priester, die Siriats Lehre verbreiteten. »Eines dieser Kinder wird die erste Königin von Imeas werden.« Die Göttin der Nacht, der Träume, des Schlafes und des Todes lächelte zufrieden. »Und Iri?« Tairis zeigte eine für ihn ungewöhnliche Neugier. »Ist von nun an ein Stern der Suche. Sie wird leuchten, wenn der Weg verloren scheint, wenn er in der Finsternis liegt und sie allein wird entscheiden, wem sie ihr Licht schenkt.«