Das Märchen von der verlorenen Zeit
von Oda Plein
Einst, vor unzählig vielen Jahren, lebte in Imeas ein besonderer Mann. Sein Name war Aterus und er lebte, so wird es sich erzählt, in einem kleinen Wald im Süden. Heute wird diese Gegend der verwunschene Wald genannt und solltet ihr ihn jemals betreten, erinnert euch an Aterus und seine Taten. Schon als kleines Kind zeigte Aterus eine große magische Begabung und diese wuchs mit jedem seiner Lebensjahre. All sein Bemühen galt der Heilung von Mensch und Tier. Selbst die Elben suchten ihn auf, wenn ihre eigene Kraft versagte, was natürlich nicht oft geschah. Der junge Magier war aber nicht nur mit großer Zauberkraft gesegnet. Seine Freundlichkeit und seine Hilfsbereitschaft waren im ganzen Land bekannt. Eine Bezahlung nahm Aterus niemals an. Er lebte von dem, was die Menschen ihn brachten und trug die Kleidung, die sie ihm schenkten. Die Hütte, die er bewohnte, war klein und kärglich eingerichtet und trotzdem erfüllte ihn Glück und Zufriedenheit. Nun trug es sich zu, dass der letzte Winter besonders hart gewesen war und eine Krankheit ergriff das Land. Sie befiel vor allem die Kinder. Ihre Augen waren blutunterlaufen, die Haut gelblich und heiß von hohem Fieber. Aterus setzte sein ganzes Wissen ein, um dieser Plage zu begegnen, doch er konnte nicht viel ausrichten. Immer mehr Kinder starben. Der Magier aber wollte nicht aufgeben. Zu groß war sein Wunsch zu helfen und zu beherrschend sein Wille die Menschen nicht zu enttäuschen. Immer verbissener suchte er nach einer Medizin, einem heilenden Zauber, doch keine seiner Bemühungen schien viel zu bewirken. Verzweiflung machte sich im Herzen des Magiers breit und als wieder ein Kind unter seinen Händen starb, wurde aus Hoffnungslosigkeit tiefe, dunkle Wut. In einer hellen Vollmondnacht begab Aterus sich auf eine kleine Lichtung mitten im Wald und begann mit den Vorbereitungen zu einem großen Ritual. Diese und noch drei weitere Nächte brauchte er, um verschlungene Kreise und seltsame Zeichen auf den Boden zu zeichnen. In dieser ganzen Zeit nahm Aterus einzig ein paar Becher Wasser zu sich, dem Schlaf ergab er sich nie. Am Tage kümmerte er sich weiter um die Erkrankten, in der Nacht war er immer auf der Lichtung. Dann, in der fünften Nacht war es soweit. Aterus stand mitten in den dunklen Kreisen, murmelte und brummte vor sich hin. Seine Hände malten unsichtbare Formen in die Luft und die Zeichen und Linien begannen zu glühen. Immer lauter wurde die Stimme des Magiers, der sich mal in Feuer, mal in Kälte hüllte. Seine Augen leuchteten wie der helle Tag. Um ihn herum lebte und starb die Natur innerhalb von Minuten immer und immer wieder. Die Erde selbst bebte durch die Kräfte, die Aterus in dieser Nacht rief. Die wenigen Menschen, die den Magier zu der Lichtung begleitet hatten, wichen zurück und Angst ergriff sie. Sie fürchteten um ihren Freund, der ihnen so oft das Leben gerettet hatte. Sie flehten ihn an das Ritual zu beenden und sich nicht zu verlieren in dem Wunsch die Seuche zu besiegen. Sie versuchten seine Wut und Verzweiflung zu mindern, indem sie ihn an seine guten Taten erinnerten. - 3 - - 4 - Doch Aterus hörte ihren Worten nicht zu. Sein flackernder Körper wurde auf einer schmalen Säule aus Wasser emporgetragen und dann toste ein furchtbarer Windstoß durch den Wald. Sein Brausen erhob sich über Aterus Stimme und endete in einem lauten, heftigen Knall. Stille breitete sich aus und sowohl Aterus, als auch die Zeichen und Kreise waren verschwunden. Verängstigt und verwirrt kehrten seine Begleiter zur Hütte zurück. Sie riefen alle zusammen, die den Magier kannten, um ihn zu suchen. Wochenlang durchstreiften sie das ganze Land, doch Aterus blieb verschwunden. Trauer erfasste die Imeer. Nicht nur das Verschwinden des Magiers machte ihnen Sorge, auch die Krankheit breitete sich mit rasender Geschwindigkeit aus und befiel nun auch die Erwachsenen. Es schien, als wäre mit dem Verschwinden des Magiers die letzte Hoffnung verschwunden, die das Land vor dieser Plage bewahrt hatte. Als dann mehrere Wochen vergangen und viele tausend Menschen gestorben waren, geschah etwas Seltsames. Wie von Zauberhand verschwand die Krankheit. Voller Hoffnung liefen die Menschen zu Aterus Hütte, doch was sie fanden, konnte keiner wirklich verstehen. Der Magier war zurückgekehrt, doch sein Körper war nun alt und gebrechlich und sein Geist verwirrt und leer. Wer nun meint, dass Aterus ein wahrer Held war, der seine Lebensjahre und seine Begabung opferte, um die Imeer von einer schrecklichen Seuche zu befreien, der irrt. In den alten Schriften ist zu finden, was wirklich geschah. Aus Verzweiflung und Wut vergaß Aterus, dass Krankheiten ebenso zum Leben gehören, wie der Tod. Er versuchte, die Gesetze der Natur in seinem Sinne zu lenken. Doch die Zeit ist etwas, dass niemand beeinflussen kann und manchmal brauchen die Dinge länger, als wir Menschen es wollen. Aterus bezahlte für seine Ungeduld mit einer langen Spanne seines Lebens und für jeden Tag den er verlor, starben Menschen an einer Krankheit, die er mit Geduld hätte heilen können.