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Avels Wald

von Oda Plein

Wenn sich die Älteren unter uns an Avel Maranya erinnern, so berichten sie immer von einem kraftvollen Elb mit langen schwarzen Haaren. Seine Augen, in der Farbe der Erde, funkelten stets, als wären sie mit hunderten winziger Bernsteinsplitter durchsetzt. Eins der berühmtesten Gemälde zeigt Avel auf einem Hügel stehend. Er heilt, die Haare wehend im Wind, einen zerborstenen Baum. Das war die größte Begabung unseres Bruders. Mit seinem Gesang brachte er Gesundheit. Doch nutzte er dies nicht für uns oder andere zweibeinige Wesen, sondern er schenkte sie ausschließlich den Blumen, Bäumen und Pflanzen. Avel war ein schweigsamer Weggefährte, der sich in der Einsamkeit der Wälder stets am wohlsten fühlte. Die Bäume waren ihm gute Freunde und an den Orten, wo sein Gesang erklang, wuchsen sie stark und gesund. Einzig seine Schwester Isariel begleitete ihn oft. Denn die beiden ähnelten sich in Aussehen und Seele wie ein Ei dem anderen. Im Jahr 2076 vor dem Jahre 0 begab es sich, dass in Imeas schreckliche Stürme tobten, die ganze Wälder innerhalb weniger Monate vernichteten. Jegliche blühende Blumen wurden vom Anlitzt der Welt gerissen und selbst die Erde zu wirren und ungewöhnlichen Formen aufgeworfen. Avel versuchte viele Wochen die Luft zu besänftigen und die verletzten Bäume zu retten, doch er scheiterte an der unablässigen Wucht der Winde. Als die Stürme endlich nachließen und wir die endlose Verwüstung erblickten, brach Avels Lebensmut wie ein dürrer, morscher Zweig. Seine Augen, dunkel und matt vor Trauer, funkelten nicht mehr und seit diesem Moment hörte ihn niemand mehr singen. Unser ganzes Volk machte sich daran der Natur zu helfen und die Schäden zu beheben, nur Avel verharrte in dumpfer Agonie. »Gehst du heute mit mir in den Wald liebster Bruder?« So fragte seine Schwester jeden Tag. Vermisste sie doch seine Zuversicht und seine Kraft. »Ich bin keine Hilfe für euch Isariel. Meine Kraft genügt nicht, um diese Aufgabe zu erfüllen. Geh alleine«, antwortete er stets und blieb mit hängenden Schultern auf seinem Lager sitzen. Die junge Elbin ging wehmütig ihrer Aufgabe nach, doch versäumte sie es nie ihren Bruder zu bitten ins Leben zurückzukehren und ihr zu helfen. Vier Jahre lang arbeiteten wir unermüdlich und erreichten viel. Doch ein kleiner Wald im südöstlichen Imeas war unserer Aufmerksamkeit entgangen. Als wir ihn entdeckten, war er dem Tode nah. Uns allen war klar, dass wir ihn nicht retten konnten. Isariel berichtete ihrer Mutter von dieser Entdeckung. Die junge Elbin war voller Groll und Mutlosigkeit, da sie und ihre Begleiter nichts hattten ausrichten können, um dem Wald zu helfen. Avel folgte dem Gespräch teilnahmslos. Doch dann erschrak er. Das Gesicht seiner Schwester, schien vor seinen Augen zu zersplittern. Sie war für ihn schlagartig wie ein Spiegel seiner Selbst. Er kannte ihre Gefühle, Gedanken und den erlebten, inneren Tod. Würde sie innerlich genauso sterben wie er? Noch in derselben Nacht machte er sich mit ihr auf dem Weg, um dem Wald zu helfen. »Mein Bruder, dieser Wald ist nicht mehr zu retten. Sieh doch, wie viele der Bäume schon verdorrt sind.« Isariels Stimme klang traurig, als sie ihre Blicke schweifen ließ. 
Avel kniete nieder, um den Boden zu berühren, und entgegnete leise: »Noch lebt er, sein Herz ist nicht verstummt.« »Wir haben versucht zu helfen, aber es ist wie ein unendlicher Schlund, der all unsere Magie verschluckt. Er wird sterben, weil meine Kraft nicht ausreicht.« Avel blickte bei den Worten seiner Schwester zu ihr hoch und plötzlich lächelte er vorsichtig. »Richtig Isariel, manchmal muss etwas vergehen, dieser Wald aber wird weiter bestehen.« Sie schaute ihn neugierig an. »Was hast du denn vor? Wie soll es möglich sein, dass du alleine schaffst, was vielen von uns nicht gelungen ist?« »Das weiß ich noch nicht, aber ich werde es erfahren«, sagte er und für einen Moment war er wie früher, voller Ruhe und Lebensfreude. Isariel hatte keine Hoffnung, dass ihr Bruder sein Ziel erreichen konnte, doch sie blieb bei ihm. Sie klammerte sich innerlich daran, dass er wieder zum Leben finden würde. Am ersten Tag bewegte sich Avel schweigend durch den Wald. An jedem Baum machte er Halt und berührte jeden Stamm. »Es ist wichtig, den Schmerz und den Tod zu spüren, weißt du«, flüsterte er am Abend erschöpft. Sorgenvoll schaute sie ihn an. »Du musst den Kreislauf ehren Bruder.« »Genau das mache ich« sprach er mit sanftem Blick, strich ihr über den schwarzen Zopf, und kehrte zu seiner Arbeit zurück. Nach zwei Tagen, in denen Avel mit den Bäumen gelitten, geweint und gestorben war, setzte er sich zu Isariel und seine Stimme klang sanft und ruhig. »Kleine Schwester, ich weiß einen Weg, wie ich den Wald retten kann.« Sie schaute ihn nicht an, als sie antwortete. »Werde ich dich wiedersehen?« »Immer wenn du hier verweilst, wirst du meine Nähe spüren. Du musst nach uns sehen und gut auf uns achten. Kannst du das für mich tun?« Sie nickte stumm, berührte leicht seine Wange und gab ihm einen letzten Kuss auf die Stirn. Hoch aufgerichtet und mit klarem Blick verließ er sie und verschwand zwischen den toten Bäumen. Der Weg zum Herzen des Waldes fiel dem Elb leicht. Längst lag es offen und sichtbar mitten im Wald. Als er die ersten Ausläufer der Magie mit der seinen erfasste, spürte er keinen Schmerz, sondern eine Frage in sich aufkeimen. Warum willst du dein Leben geben Elb? Ist es dir nichts wert? »Erst seit ich dich gesehen habe, konnte ich erkennen, dass ich viel zu lange kein Leben mehr hatte.« Kehre zurück zu deinem Volk, dein Opfer wird vielleicht vergebens sein. Avel ging tiefer in das Herz hinein und öffnete sich mehr und mehr für dessen Magie. »Ich bringe kein Opfer. Die ganzen Jahre war ich anmaßend und habe die Natur nicht geachtet. Ich war wütend, weil meine Kraft nicht reichte den Wind zu besänftigen. Habe vergessen, dass auch ich nur da bin, um dem Kreislauf zu dienen. Diese Dinge haben sich tief in mir verankert. Dies wird in mir erhalten bleiben, gleich wie sehr ich mich bemühe, um es zu ändern. Darum bedarf ich der Rettung und nicht du.«
Du weißt, dass es kein Zurück geben wird? Seine Antwort bestand aus einem fröhlichen Lachen und in seinen Augen erstrahlten das alte Funkeln wie eine Sternenexplosion. Isariel hörte das Lied, dass Avel in den letzten Augenblicken seines irdischen Lebens sang. Sie beobachtete, wie die Bäume sich erholten. Schaute zu, wie der Boden, dunkel und reichhaltig, neues Leben hervorbrachte und sie sah die Magie des geheilten Herzens erstrahlen. Sie erfuhr, wie ihr Bruder gerettet wurde und sie spürte wie glücklich er als neues Herz des Waldes sein würde. Sie hielt ihr Versprechen, noch heute kann man sie in Avels Wald finden und sie bewacht ihn mit reinen Herzen und voller Lebensfreude.